Elses zweites Leben

Wie die Künstlerin Maria Dinger mit Bildern

ihrer Vorfahren ihre eigene Familie findet.

 

Von Louisa Markus

 

Ihre Haltung erinnert an eine Marionette:

stocksteif und nicht so kindlich, wie man es von

einem Mädchen in ihrem Alter erwarten würde.

Nur ihr zur Seite geneigter Kopf erweckt den

Eindruck, sie wolle sich der Strenge entziehen.

Regungslos sitzt Else zwischen ihren drei

Geschwistern, die Hände im Schoß gefaltet, als

würden sie auf etwas warten.

 

Maria Dingers rechte Hand ist nur wenige

Zentimeter von Elses Gesicht entfernt, der Pinsel

zittert leicht. Sie setzt die dicken Borsten am

Kinn an, um dann über den Unterkiefer zu

streichen und dem Gesicht eine dunkle Kontur zu

geben. Ihre Bewegungen sind langsam; wie in

Zeitlupe fährt der Pinsel über die Wellpappe und

erweckt eine Situation zum Leben, die sich um

das Jahr 1900 zugetragen hat. Maria Dinger gibt

den Kindern eine neue Wirklichkeit – durch

Farbe und eine Kunst, die sich aus fremden

Erinnerungen zusammensetzt. 

Wenn Maria Dinger ihr Atelier mit Blick über

Lahr im Schwarzwald betritt, ist sie in einer

anderen Welt. Sie läuft die schmale Treppe

hinauf auf den Balkon, der in die kleine

Wohnung führt. Bevor sie die Tür zu ihrem

Atelier öffnet, hält sie einen Moment inne,

genießt die Aussicht über ihre Heimat. Der Sturm

hat die weiße Holztür vom Wintergarten

aufgeweht; jetzt scheppert sie in regelmäßigen

Abständen gegen das Fenster.

 

 

Kunst auf Verpackungsmaterial

 

Das Gemälde mit ihrer Großmutter Else und

deren Geschwistern im Kindesalter hängt an der

langen Wand gegenüber des Eingangs. Es ist auf

Wellpappe gemalt und auf eine weitere Schicht

Wellpappe getackert. Man kennt dieses Material

von Paketzwischenräumen oder als

Verpackungsmaterial. Für Maria Dinger ist es

Basis einer Kunst, die verschiedene Dimensionen

zulässt und sich erst in der Gesamtheit zu einer

Geschichte entwickelt. Sie malt gewissermaßen

nur halbe Gemälde, bedingt durch die Textur der

Wellpappe: Nur die erhabenen Teile werden von

den Pinselstrichen erreicht, die Tiefen des

Materials bleiben leer. Doch das Auge sieht das,

was es sehen will, verdichtet die längsverlaufene

Textur zu einem Bild. Zu einer Familie. Zu ihrer

Familie. Kinder, die schon allein wegen ihrer

unnatürlich geraden Haltung aus einer anderen

Zeit stammen müssen.

 

Die Fotovorlagen für diese Bilder fand die

Künstlerin in einer Kiste, die ihre Mutter an ihre

Töchter vererbt hat. Ihre Schwester Gabriele

liefert die Geschichten zu den Bildern, die

Zusammenhänge zwischen Familienmitgliedern,

die Charaktere. Maria Dinger wusste darüber

nichts. Es scheint, als würde sie erst jetzt, mit 61

Jahren, feststellen, dass sie eine Familie hat, die

sie mit ihrer Kunst rekonstruieren kann. Ihrer

längst verstorbenen Großmutter Else fühlt sie sich

nahe, obwohl sich die beiden kaum kannten.

Wenn sie von ihrer Schwester Elses Geschichte

hört, erkennt sie sich in Teilen selbst.

 

Langsam wird ihr klar, dass diese Frau, die sie als

Kind mit ihren Geschwistern malt, eine

Schlüsselfigur in ihrem Leben ist. Auch Else war

zunächst fremd in ihrer Familie. Maria Dingers

Mutter hat diese alten Geschichten immer nur der

Schwester erzählt; sie selbst hatte sich schon als

junge Frau von der Familie abgrenzt. So erfuhr

sie wenig über ihre Ahnen, lernt sie erst jetzt in

ihren Bildern kennen. Sie malt sich die Familie,

die sie in Wirklichkeit nie hatte, baut zu den

Vorfahren Beziehungen auf, die niemals echt

werden. Erst nach dem Tod ihrer Eltern haben die

Schwestern Gemeinsamkeiten gefunden, die eine

Beziehung entstehen ließ: alte Fotos ihrer

verstorbenen Familienmitglieder. Maria Dinger

schenkt ihnen in ihren Bildern ein neues Leben,

ihre Schwester Gabriele stellt dutzende

unzusammenhängende Gemälde in einen

Zusammenhang.

 

 

Duft über Acryl

 

Die noch kindliche Else kann von dort, wo sie

hängt, den ganzen Atelierraum überblicken. Vom

beißenden Geruch nach Farbe und Chemie weiß

sie nichts. Sie sieht Maria Dinger durch den

Raum wuseln. Die Künstlerin knipst die

Stehlampe an, sucht Pinsel zusammen, zieht sich

um. Sie tauscht ihren schwarz-rot karierten Rock

gegen bunt gesprenkelte Leggings, über der sie

ein schwarzes Kleid trägt. Die dunklen Haare

sind mit mehreren Spangen wild auf dem Kopf

zusammengesteckt, einzelne Strähnen fallen

heraus. Sie zündet eine Kerze an und tröpfelt ein

bisschen Aroma-Öl herein. Auch diese Duftstoffe

hat sie von ihrer Mutter geerbt. Sie stehen jetzt

aufgereiht auf der massiven Kommode im Atelier

und werden immer dann verwendet, wenn der

Geruch von Acrylfarbe zu stark in die Nase zieht.

Dann macht sich Maria Dinger Musik an. Aus

dem kleinen weißen Recorder mit langer Antenne

kommen Trompeten und ein Klavier. Sie

verschlucken das leise Geräusch vom

Wasserkocher im Nebenraum. Fats Waller.

Swing aus den 1930er- und 40er-Jahren.

 

Die lebhafte Melodie könnte kaum weniger zu

Maria Dingers bedachten Gesten passen. Der

Pinsel bewegt sich über das Bild, macht

schabende Geräusche, wenn sie mit Wucht quer

über die Wellpappe fährt. Sie hält eine Kopie des

schwarz-weiß Fotos der Kinder parallel zum

Pinsel, malt die Situation von damals ab, bleibt

dicht an der Vorlage. Nur in der Farbwahl ist sie

frei. Wie bei einem Tanz geht sie manchmal vor

und wieder zurück, um Foto und Werk zu

vergleichen. Die Striche scheinen beliebig und

werden doch sehr gewählt gesetzt. Erst wenn der

letzte Rest Farbe aus dem Pinsel gequetscht ist,

geht sie ein paar Schritte zurück, wirft einen

Blick auf die Veränderung, um sich dann wieder

dem Bild zu nähern. Maria Dinger konturiert erst

das Grundgerüst und tastet sich dann zu jeder

einzelnen Figur auf dem Bild vor, schenkt jeder

einen Charakter. Dazu braucht sie ihre Schwester

Gabriele. Sie tippt eine Mail.

 

Von: Maria Dinger

Betreff: Liebe Gabriele, kannst du mir etwas zu

den beiden Fotos sagen, vor allem zuordnen!

 

Die Antwort kommt per WhatsApp, schnell

geschrieben, wie immer.

 

08.11.17, 12:55:57: Gabriele: Klar kann ich:

Also ganz oben ist die Familie Leo und Emma

Schmitt, wahrscheinlich in

Schlüsselfeld/Forsthaus. Dazwischen unsere

Großmutter Else. Dahinter stehen der obercoole

Ludwig und die auch sehr hübsche Thekla. Wie

Mutter mir 100 Mal erzählte, hatte man unsere

Oma erst zur Familie geholt, als bereits andere

Kinder auf der Welt waren. Man muss sich das

vorstellen... Plötzlich holt dich jemand ganz

Fremdes aus deinem Zuhause ab und packt dich

als älteste Schwester in ein bestehendes

Familiengefüge... Sie sieht auch immer sehr

traurig und zart aus!!!

 

 

Verwandtschaft auf Wellpappe

 

Mit den Bildern arbeitet Maria Dinger ihre

Familiengeschichte auf, erweckt ihre Großmutter

Else zum Leben und lässt sie Teil ihres eigenen

werden. Bilder von Else hängen überall, im

Atelier, zuhause. Einmal als junge Frau, dann

wieder als Kind. Wenn Maria Dinger ihr Haus in

Lahr betritt, schaut sie Else in die Augen. Deren

Wellpappe-Bild hängt gleich gegenüber der

Haustür. Sie ist auf diesem Bild kein Kind mehr,

sondern eine junge schöne Frau. Ihr Blick ist

starr, fast ein bisschen gelangweilt. Sie schaut

von ihrem Gemälde, durch eine Glasscheibe

geschützt, auf ihresgleichen: Porträts auf

Wellpappe.

 

Auch im Wohnzimmer gibt es eine Version von

Oma Else als junge Frau. Sie liegt eingequetscht

auf dem riesigen Holzschrank, ihre Wellpappe ist

eingerollt und stapelt sich auf anderen Bildern,

die hier gelagert werden. Manchmal holt Maria

Dinger Else herunter und schenkt ihr einen Blick

in den Raum. Auch hier sieht sie ihre

Verwandtschaft.

 

Diese Bilder ihrer Familie sind Teil von Maria

Dingers Leben geworden. Es scheint fast, als

wolle sie mit deren Hilfe ihre eigene verlorene

Vergangenheit wiederfinden und eine Beziehung

zu ihrer jetzigen Familie aufbauen. Zu ihrer

Schwester, die sich aus den zahlreichen

Gesprächen mit der Mutter so gut mit den

Vorfahren auskennt. Und zu deren Kindern, die

erste Aufträge an ihre Tante geben und ihre

eigenen Familien malen lassen. Nach demselben

Prinzip, mit einer Fotografie als Vorlage. Aber

mit Protagonisten, zu denen sie – anders als zu

den längst verstorbenen Vorfahren – eine echte

Beziehung finden kann.